Nach den Erfolgen der deutschen Nationalmannschaft bei der EM in Polen wächst die Zahl derjenigen, die dieser Sportart plötzlich Beachtung schenken. Wer sich aber täglich mit Handball beschäftigt, sieht so viel, das sich eher zu schauen lohnt, als vieles, was täglich vom Fußball gezeigt wird. Da passt der HSV-Slogan doch hunderprozentig: HANDBALL IST MEHR… Sieben Gründe für diese These:
Von Georg Amend
Auf einmal gucken wieder alle zu. So ist das bei Sportarten, die im Schatten des übermächtigen Fußballs residieren müssen – sie finden fast nur Beachtung, wenn ihre Vertreter bei Großereignissen erfolgreich sind. Dass die Handballer bei der aktuellen Europameisterschaft in Polen als jüngstes Team aller 16 Teilnehmer den Halbfinaleinzug geschafft haben, hat auf einmal wieder jeder mitgekriegt, plötzlich sind die Namen Weinhold, Wolff und Fäth nicht nur mehr nur Insidern bekannt.
Dabei liefern alle Akteure, die nun in Polen einen mörderischen Spielrhythmus ertragen – zur Erinnerung: Dänemark hatte vor dem Spiel gegen Deutschland keine 24 Stunden Pause –, das gesamte Jahr über Außergewöhnliches, das mehr Beachtung verdient hätte, als ein paar lieblos zusammengeschnittene Minuten in der sonntäglichen Sportschau. Wer sich täglich mit Handball beschäftigt, sieht so viel, das sich eher zu schauen lohnt, als vieles, was täglich vom Fußball gezeigt wird. Darum hier sieben Gründe, warum Handball besser als Fußball ist.
Georg Amend ist 35 Jahre alt und spielt seit 28 Jahren Handball. Er ist seit 16 Jahren Mitglied unserer Redaktion und derzeit Sportchef unserer Ausgabe in Solingen. Er berichtet mit dem Schwerpunkt Handball-Bundesliga über den Bergischen HC sowie über zahlreiche weitere Sportarten – auch Fußball, den er selbst beidfüßig spielen kann, allerdings beidfüßig schlecht. FOTO: Martin Kempner
Mannschaftsgeist Ja, ja, der Star ist die Mannschaft. Sagen Fußballer, meinen aber nur die erste Elf, vielleicht noch ein, zwei Joker. Der Rest ackert im Training, um irgendwann mal in die Stammformation zu kommen oder hofft – auch wenn es nie jemand sagen würde – auf die Verletzung des positionsbezogenen Rivalen. Bei den deutschen Handballern fehlten schon vor EM-Beginn die Star-Außen Uwe Gensheimer und Patrick Groetzki, Abwehrchef Patrick Wienczek und Rückraum-Shooter Paul Drux. Dann fielen mit Steffen Weinhold und Christian Dissinger vor dem „Endspiel“ um das Halbfinale zwei Säulen des Teams aus. Brach die Mannschaft da auseinander? Nein, sie besiegte einen der Titel-Favoriten, weil im Handball vergleichsweise mehr Spieler auch Spielpraxis haben. Es gibt nicht nur drei Auswechslungen pro Partie, sondern fliegende Wechsel, braucht einer eine Pause, kommt sein Vertreter zum Zug. So kommen alle auf Spielanteile und Leute, die in der „zweiten Reihe“ eingestuft wurden, können sich plötzlich ins Rampenlicht spielen – wie Torhüter Andreas Wolff, der ursprünglich als Nummer zwei hinter Carsten Lichtlein gegolten hatte. Die Torhüter neiden sich die Einsatzzeiten in der Regel nicht, sie feuern sich an, tauschen sich aus. Vermutlich würde sich Manuel Neuer eher die Zunge abbeißen, bevor er sich bei seinem Bayern-Vertreter Sven Ulreich Tipps holen würde. Beim Handball sind solche Neidfaktoren nicht vorhanden. Die Mannschaft gewinnt zusammen und sie verliert zusammen. Im ersten Fall jubelt sie zusammen, im zweiten fängt sie sich auf. Bei welchem der beiden Szenarien mehr Bier benötigt wird, ist von Fall zu Fall verschieden.
Härte Zu viele Kopfbälle standen schon mal im Verruf, Hirnschäden bei Fußballern zu verursachen. Lassen wir das mal so stehen. Die dürften indes nicht für so manchen Aussetzer verantwortlich sein: Von Handball-Nationalspielern, die mit Dönern werfen, ist jedenfalls nichts überliefert. Nicht mal von Torhütern, die in der Szene ohnehin als ein wenig verrückt gelten und in der Regel auch am ehesten gefährdet sind, einen Ball mit mehr als 100 Stundenkilometern aus kurzer Distanz ins Gesicht gepfeffert zu bekommen. Als Weinhold im Spiel gegen Spanien einen direkten Freiwurf aus drei Metern voll an den Kopf bekam, erlitt er eine Gehirnerschütterung und brach sich ein Stück vom Zahn ab – kein Grund für eine längere Ausfallzeit. Überliefert und beobachtet sind auch Spieler, die sich ausgekugelte Finger oder Schultern selbst wieder einrenkten und wieder auf die Platte gingen. „Schwalbenkönige“ werden im Handball in der Regel nicht geduldet, einzige Ausnahme ist die Provokation eines Stürmerfouls. Wer aber nach einer harten Attacke den sterbenden Schwan markiert, kriegt bei den nächsten Angriffen so lange was von der Abwehr auf die Mappe, bis er wirklich Schmerzen hat. Das ist Erziehung. Liebevolle Strenge.
Soziales Bei aller Härte – hinterher haben sich alle wieder lieb. Und das ist keine Floskel, das Abklatschen mit dem Gegner gehört nach dem Spiele ebenso dazu wie vor der Partie. Mit dem Gegner, mit dem man über 60 Minuten liebevolle Strenge ausgetauscht hat, trinkt man nachher ein Bier. Wer beim Fußball auf die Socken gekriegt hat, humpelt sicher nicht zum tretenden Gegenüber, sondern zum Physiotherapeuten. Sozial ist der Handball aber auch, weil er alle vereint: Unterklassig spielt der Dachdecker mit dem Rechtsanwalt zusammen, mit Medizinern, Polizisten, Schreinern, Schülern und Studenten. Und nahezu alle finden eine Position: Die Untersetzteren gehen an den Kreis oder ins Tor, die großen Brecher in die Abwehr oder auf die Halbpositionen im Rückraum, die Wendigen mit Übersicht auf die Mitte, die Schmalen, Schnellen auf die Außen. Für jeden ist etwas dabei – selbst wenn er den Ball nicht fangen kann. Dann geht’s eben auch ins Tor, da reicht abwehren ohne fangen. Ein Fußballer, der den Ball nicht stoppen kann? Undenkbar, selbst im Tor.
Fairness Zum einen ist da die alltägliche Fairness durch die liebevolle Strenge, die auch „Schwalben“ verhindert. Wer austeilt, kriegt in der Regel auch was zurück. Das unterbindet übertriebene Härte oder gar Tätlichkeiten recht gut. Es gibt hin und wieder aber auch Beispiele für eine außergewöhnliche Fairness: Viktor Szilagyi, Kapitän der österreichischen Nationalmannschaft und des Handball-Bundesligisten Bergischer HC, lieferte ein solches Mitte September 2013: Der Mittelmann, der alle europäischen und deutschen Titel im Vereinshandball gewonnen hat, hatte in letzter Sekunde den 25:24-Siegtreffer des BHC gegen Wetzlar erzielt, weil dem gegnerischen Torhüter der Ball durch die Finger gerutscht war. Anstatt sich nun von seinen Mannschaftskollegen feiern zu lassen, machte sich Szilagyi auf den Weg zu dem damals 21-jährigen Keeper und sprach ihm Trost und Mut zu. Das hat dem Wetzlarer wohl geholfen, denn heute ist er der neue Star im Tor der Deutschen Mannschaft: Andreas Wolff.
Tempo und Technik Beim Handball fallen so viele Tore, dass man ein einzelnes nicht ausgiebig bejubeln kann. Denn wer sich in der Ecke das Trikot von der Brust reißt und von den Fans feiern lässt, fehlt in der Abwehr und verschuldet ein Gegentor. Das klingt nach einem Vorteil für den Fußball – klar, Heldenstatus erlangt man mit feinem Füßchen und ebenso feiner Choreografie beim Jubeltänzchen sicher schneller als beim Zurücklaufen nach einem Treffer. Aber das Tempo spricht für den Handball. Ballrumgeschiebe, Rasenschach oder Nichtangriffspakte – Fehlanzeige. Dazu kommt die hohe Vielfalt im Erzielen der Tore: Dreher, Heber, Leger von außen, Kempa-Tricks, Sprungwürfe, Schlagwürfe – aus dem Stand, aus dem Lauf, abknickend im Oberkörper oder über das sogenannte falsche Bein –, Unterarmwürfe aus dem Rückraum, Torwart-Tore oder Treffer vom Kreisläufer, der die Kugel im Fallen auch mal mit einem Überkopfwurf mit dem Rücken zum Tor in die Maschen setzt, obwohl zwei 100-Kilo-Männer an ihm dranhängen – es gibt einfach so viele Möglichkeiten.
Konstanz Ein genialer Moment, ein Pass in die Tiefe, ein überragend erzielter Treffer eines Individualisten, ein grober Fehler eines Einzelnen – all das kann ein Fußballspiel entscheiden. Darin liegt sicher auch ein Reiz. Im Handball braucht es aber über die gesamten 60 Minuten Top-Leistungen aller Beteiligten. Es fallen einfach zu viele Tore, als dass ein Moment für eine Entscheidung sorgen könnte. Selbst wenn es die letzte Szene des Spiels ist, die über Sieg oder Unentschieden, über Klassenerhalt oder Abstieg, entscheidet – nur wer 60 Minuten alles gegeben hat, kommt überhaupt erst dahin, dass die letzte Szene entscheidend sein kann. Die üble Klatsche, die sich Polen gegen Kroatien einfing (23:37), resultierte daraus, dass die gesamte Mannschaft über mindestens 50 Minuten nicht an ihr Limit kam, während den Kroaten alles gelang. Es erinnerte an das Halbfinale der Fußball-WM zwischen Brasilien und Deutschland, weil auch da der Gastgeber mit dem 1:7 komplett verprügelt wurde, aber das ist auch schon die einzige Gemeinsamkeit der beiden Sportarten. Ein Eigentor hat jedenfalls noch nie ernsthaft ein Handballspiel entschieden.
Offenheit Durch zahllose Presseabteilungsvertreter glattgebügelte Phrasendrescherei a la Philipp Lahm ist beim Handball zum Glück nicht weit verbreitet. Da wird der Gegner nach der Partie auch mal ganz offen als „Drecksack“ bezeichnet, eine Strafe wie jüngst Jörg Schmadtke sie als Manager des 1. FC Köln in der „Eierkopp-Affäre“ kassierte, muss da niemand fürchten. Zumal sich die Handballer in der Regel auch mehr mit der eigenen Nase befassen als mit der des Gegners – zumindest nach dem Spiel. Selbstkritik, ohne einzelne Mitspieler in die Pfanne zu hauen, gehört stets zum Repertoire. Da dürfte sich der Dortmunder Fußball-Kollege Mats Hummels mal für ein Praktikum empfehlen. Offenheit herrscht auch in einem anderen Bezug: Handballer schauen sich viele andere Sportarten an, beschäftigen sich so damit, dass sie mitreden können. Fußballern muss man oft genug erklären, warum der Schiedsrichter beim vermeintlichen Handspiel von Weinhold und Co. gerade nicht gepfiffen hat.
(ame)